Ist das ein Skandal?

In diesem Jahr konnte ich ein (vielleicht) persönliches Phänomen beobachten, bei dem ich mich von vielen Menschen oder belastenden Situationen distanzierte, die nicht mehr zu mir passten oder mir Schmerz zufügten. Ich vergleiche diesen Prozess gerne mit dem langsamen Abziehen eines Pflasters. Zwar mag der Anfang schmerzhaft sein, doch am Ende trägt es zur Heilung bei. Es fasziniert mich, wie Menschen sich oft an schmerzhafte Umstände oder Situationen gewöhnen und sie als ihre neue Normalität akzeptieren. Das Verbünden und Verbrüdern mit Menschen, die ähnliches Leid erleben, anstatt dem Hinwenden zu Personen, die vielleicht schon einen Schritt weiter sind. Trotz Schmerz, wird ein gewisses „Stehenbleiben“. in Kauf genommen. Ein gemeinsames Wälzen im Leid. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen „Trauma-Bonding“.

Ein weiteres Konzept, über das ich nachgedacht habe, ist die Idee der „doppelten Ablehnung“. Dieses Konzept begegnete mir durch eine Passage aus einem Roman von Édouard Louis: Es bezieht sich auf Personen, die aufgrund von Umständen – etwa mangelnder Bildung oder begrenzter Möglichkeiten – bestimmte Optionen in ihrem Leben ablehnen (Ablehnung 1). Später, wenn sich diese Optionen erneut in ihrem Leben zeigen, lehnen sie sie erneut ab (Ablehnung 2), und dadurch werden diese Optionen endgültig versperrt. Der Käfig, der aufgrund äußerer Umstände da war, wird nun eigenhändig zementiert. Für immer.

Während ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich mich an eine Gesellschaft gewöhnt habe, die mich nicht richtig repräsentiert oder inspiriert. Diese Gewohnheit, so glaube ich, führt dazu, dass Menschen in einem Kreislauf von Negativität und Leid gefangen sind und dabei potenzielle Unterstützungen und Chancen ausschließen. Wieviele von diesen blind spots gibt es wohl in jedem von uns?

Seine Wunden zeigt man leichter Personen, die auch verletzt sind. Und irgendwie ist das auch logisch. Aber wenn die Person im gleichen Stadium der Verletzung ist, kann daraus oft nichts langfristig Gutes entstehen. Oft wühlt man dann mit vereinten Kräften weiter in den Untergrund und wettert grimmig gegen „die da oben“.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die so sehr im gleichen Sumpf stehen, gar keinen Raum und Kapazität haben für mich oder andere. Wie denn auch? Jeder braucht doch gerade alle Kraft für sich, um nicht vollends unterzugehen. Sich gegenseitig leidige Nachrichten zukommen zu lassen, wie schlimm, wie scheisse, wie gemein doch alles ist…mir bringt das nichts. Mehr. Und ich meine sicher nicht „mal“, sondern wenn das die Grundmood ist. Das merkt man immer daran, wenn zum Beispiel auch gar keine Kapazität da ist, sich auf irgendwen anderes einzulassen, der halt gerade einfach zufrieden ist.

Ich bin jetzt, gegen Ende dieses Jahres so sehr mit Feinfühligkeit, Raum für mich und Wohlwollen, geerdeten Personen umgeben, beruflich wie privat, dass ich manchmal heulen könnte. Und ich merke, wie UNGEWOHNT es für mich ist, unter ihnen zu sein. Wie ich Tatsache Probleme habe, mich zu zeigen, in all meiner Unzulänglichkeit.

Und das, das war schon immer mein Problem. Scham für xy und deshalb mied ich oben beschriebenes oder beschriebene wie die Pest, die doch eigentlich nötig wären, um mich zu heilen und da raus zu führen aus dem Sumpf.

Ich weiß, dass das mit meinem Selbstwert zu tun hat. Ich weiß aber auch, dass es NICHT die Lösung ist, sich immer mit ähnlich verletzten und versehrten Menschen zusammenzutun. Genauso wie es keine Lösung ist, Schönes zu verschandeln, weil ich es nicht haben kann.

Ich bin immer aufgeweichter in meinem Widerstand – aber ich weiß noch nicht recht, wie ich das vollständig überwinden kann.

Dieses Jahr endet so leise und doch so schön und viele wissen gar nicht, was sie mir bedeuten. In all dieser einfachen Freundlichkeit. Ohne Drama, schimpfen, zetern und zurecht biegen von Dingen, die nicht passen, nie passen werden.

Ich habe dieses Jahr so viel los gelassen und ich vermisse nichts und niemanden. Die Wut ist verraucht, nein halt, vielleicht ist Rauch das einzige, was noch da ist, aber keine Glut. Es ist ruhig nach all den Jahren voller Drama und deshalb stört mich der Winter gerade gar nicht. Denn genau das ist meine Mood: Still und ruhig und gelassen.

Pick me

Ich habe in letzter Zeit so wenig Lust, zu schreiben. Gestern habe ich sogar das erste Mal seit langem wieder mal an die Vertrautheit einer Beziehung gedacht. Ich weiß, wann das passiert. Wenn ich eine besonders große Sehnsucht nach Liebe habe. Es ist sogar eher körperlich. Das Gefühl, dass mich jemand im Arm hält, mir über den Kopf streichelt und meine Hand hält und ich jemanden atmen spüre, ganz nah.

Es ist genau dieses Bedürfnis, das sich meldet. Sicherlich ist es jetzt schon ein Jahr her bald, seitdem ich das gefühlt habe. Das war übrigens mit dem Schriftsteller, nicht mit dem Italiener.

Ich tausche mich mit wunderbaren Menschen aus, würde sagen dass ich authentischer bin als noch vor Jahren, doch diese Liebe fehlt mir. Das ist ein ganz spezieller Schmerz. Er ist in diesen Momenten so groß, dass ich mich sehr verletzlich fühle. Ganz leer irgendwie, als ob die letzte Liebe jetzt aus mir hinaus geflossen ist und nun ist der Vorrat leer. Ich habe das Gefühl, dass man es mir ansieht: Ah, seht, da ist eine ungeliebte Frau, eine Single-Frau.

Ich auf Dating-Apps? Ich hab den Bezug verloren. Jedenfalls zu den klassischen, gängigen. Ironischerweise werde ich so oft draußen angesprochen, wie noch nie zu vor. Ich muss fast einfach nur ein bisschen länger irgendwo rumsitzen. Ich misstraue aber diesen Männern per se. Pick-up Artists, Player, Gigolos tun das, flüstert es in mir. Tue ich manchen unrecht? Ich werde es nie erfahren, denn ich lass mich auf niemanden ein.

Ich fühl mich ganz komisch in dieser Hinsicht, vielleicht tatsächlich ein bisschen, als ob ich die Hoffnung verloren hätte. Den Glauben.

Mein Leben läuft gegen Ende des Jahres wirklich gut. Ich habe einige wunderbare Menschen kennen gelernt, Dinge auf den Weg gebracht, die mir etwas bedeuten. Jobmäßig hat sich einiges erfüllt. Ich lektoriere jetzt tatsächlich Bücher, die ich mag 😀 Der Wechsel war wichtig.

Doch mir fehlt Liebe, Liebe in einer vertrauten Beziehung. Ohne Drama, ohne Lüge, ohne Unsicherheit, ohne Distanz.

Ich fühle mich so unglaublich alt. Ich habe den Fehler gemacht in letzter Zeit einige Jane Austen Romane zu lesen. Die schwelgen alle genauso in diesem liebessehnsüchtigen Szenario und heiraten dann doch alle. Im Alter zwischen 18 und 26. Happy End.

Darüber hinaus ist Ende Gelände, alte Jungfernzeit, keine Chance mehr. So wie Jane Austen selbst stets unverheiratet blieb und mit 41 starb.

Wie konsequent ich mich von all diesen Drama-Beziehungen frei gemacht habe in diesem letzten Jahr, unausgegorene Männer die nur ein schaler Heiltrank waren gegen das Symptom der Liebessehnsucht. Ich habe nun keine Bauchschmerzen mehr, seitdem ich sie weglasse, aber ich bin trotzdem hungrig. Vielleicht spüre ich es jetzt umso stärker, da ich nicht durch das anhaltende Drama abgelenkt bin?

Wann gewöhnt man sich daran, wann findet man sich final damit ab, dass man diese aufrichtige Liebe wohl nicht mehr erfahren wird?

Gerade wenn man nicht mehr bereit ist, aus Wunschdenken heraus die Augen zu verschließen, oder die Brotkrümel anzunehmen, die man hier da bekommen könnte.

Es schmerzt mich, dass ich meine kostbare Zeit mit so vielen Idioten verbracht habe. Und doch verstehe ich es, wie Menschen trotz Lügen, Untreue, Drama sich gegenseitig wärmen, um wohl irgendwie Mensch zu bleiben.

bloggen

Ich mag mir manchmal gar nicht alte Blogeinträge durchlesen. Nicht, weil ich etwas bereue, sondern weil in den allermeisten Posts so unglaublich viele Gefühle stecken, manchmal so detailliert aufgeschrieben, dass ich sofort wieder drin bin. So ähnlich wie wenn man Sonnencreme im Winter riecht. Schon ist man wieder im Freibad, im Wasser, am See und erinnert sich an die wärmende Sonne.

Dieser Blog ist wie eine mumifizierte Kim. Emotionen wurden konserviert und ich kann sie wann immer ich will nochmal nachspüren.

Manches davon hat jedoch schon lange nichts mehr mit der heutigen Kim zu tun. Mein Leben ist ruhig geworden, seitdem ich nicht mehr Dating-Kim bin und ich mich nicht mehr in jedes „Abenteuer“ werfe, was sich mir anbietet.

Das fühlt sich gut aber auch seltsam an.

Ruhe. Keine Dramas. Keine spannenden Geschichten. Keine Reisen in Hotels oder andere Städte und Länder. Wobei das falsch ist. Das passiert alles trotzdem, bloß ohne Lovestory/Dramedy oder sonstige Seifenoper, die besonders einer Person fortwährend die Show gestohlen hat: mir selbst.

Wie einfach es ist, sich in einem Liebessumpf zu verlieren, mit all dem Schlamm und Modder eigene leere Ecken auszufüllen und Löcher zu stopfen. Wie viel einfacher es ist, sich über unerwiderte Liebe, gemeine Lover und unzulängliche Typen zu ärgern und beschäftigt zu halten, als die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst.

Dabei ist es so ein schönes Thema, die Liebe. Was war mit der Liebe zu mir selbst in all den Jahren? Ich habe mich oft selbst wie einer dieser unzuverlässigen Tinder-Boys von damals behandelt: Ich habe mich selbst geghosted, mich nicht für mich interessiert, mir zugehört und oft nicht zurückgerufen. Mich in falsche Kleider gezwängt und nicht gemerkt, dass mir die Farbe einfach nicht steht.

Jetzt hab ich mich selbst im Arm und weiss manchmal nicht, was ich mit mir anfangen soll – so ohne Dramatik. Manchmal fühle ich mich so, als schau ich mich ratlos in einem leeren Zimmer um, nachdem ich den alten Plunder rausgeräumt habe und weiss nicht, was tun.

Natürlich stimmt es nicht, dass es komplett leer ist – aber es ist schon ziemlich luftig 😀

Mir geht es manchmal unglaublich gut. Und das Schöne ist: Wenn es mir gut geht, wenn ich was tolles mache, ist da kein halbgares Würstchen im Hintergrund, auf dessen Antwort ich warte oder wo ich mir das Hirn zermarter, weshalb er dieses oder jenes tut oder nicht. Ich weiss noch, wie ich nach meinem Uni-Abschluss im Urlaub mit meinem Papa war an einem wirklich traumhaften Ort und es gar nicht so recht genießen konnte, weil irgendein Arschloch sich nicht nach mir erkundigt hat, und mich die Tatsache dieser offensichtlichen Interessenlosigkeit einfach dermaßen runtergezogen hat. So etwas wäre heute undenkbar. Würde sich ein Kerl so gleichgültig verhalten, würde der einfach keine Antwort mehr bekommen, wenn ich ihm dann nach ein paar Wochen wieder in den Sinn komme.

Das Thema Männer ist trotzdem ein ambivalentes. Denn meine nahezu vollkommene Interessenlosigkeit macht mir manchmal ein wenig Sorge. Wenn ich nun gar nichts mehr in diese Richtung unternehme, dann sinkt ja auch die Chance, eine wirklich tolle Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Ich bin momentan etwas ratlos, vielleicht sogar hoffnungslos, weil ich gar nicht weiss, wie und wo ich denn einen Mann finden sollte, der dem entspricht.

Auf Tinder und Co?

Seitdem ich die Standards aus der untersten Schublade ein paar Etagen heraufgestockt habe, kann man diese Apps gut und gerne vergessen. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich es da ausgehalten habe zwischen so viel Sexismus, Übergriffigkeit, Ghosting, Ignoranz, Reptilienbesitzern und schlichter Bedürfnisbefriedigung. 😀

Der Blog wird sich grundlegend ändern. Müssen.

Künstlerin sein

Das erste Mal habe ich darüber nachgedacht in einem italienischen Restaurant, das winzige Stühle und eine stadtbekannte Pasta bietet. Ich war dort mit meiner Mutter und wir hatten vor über einen Roman von Sybille Berg zu sprechen, den wir gelesen hatten.

Künstlerin zu sein, das fand sie auf eine Art sowas von nicht nahe liegend, sodass ich spürte, dass sie es nicht mal ansatzweise mit mir in Verbindung brachte. Ich könnte jetzt beleidigt sein, doch mittlerweile, nach all den Stunden Psychoanalyse, weiss ich doch, dass das begrenzte Denken meiner Mutter genau DER Grund ist, weshalb sie es nie wurde und ich dieses ultra konservative Denken auch übernommen habe. Ohne auch nur einmal darüber nachgedacht zu haben, dass es eine Möglichkeit wäre. Ich glaube, viele denken man ist nur Künstler, wenn man super erfolgreich ist. Und nur dann ist es legitim sich Künstler nennen zu dürfen. Ich halte das für genau das: Begrenzt und vorurteilsbelastet. Nicht jeder der in einem 0815-Job arbeitet, egal welche Branche ist super erfolgreich. Und das nicht immer nur, weil jemand nicht gut genug ist. Nicht jeder, der in einem 0815-Job arbeitet, hat viel Geld. Und oftmals auch keine Zufriedenheit.

Wie viele Künstler waren zeit ihres Lebens NICHT erfolgreich, reich und berühmt?

Wohl die meisten. Und von wie vielen Künstlern, die leben und gelebt haben. werden wir nie etwas hören oder sehen? Demzufolge anzunehmen, dass sie dann gescheitert wären, halte ich für einen unglaublich vermessenen Maßstab. Denn das Künstlersein ist eben genau das erstmal: Eine Berufung. Ein Beruf. Ein Sein. Und ich erachte ein Leben eher dann „erfolgreich“, wenn jemand nach seinen Werten und Neigungen gelebt hat. Und nicht nur das gemacht hat, was man so macht, laut meiner Mutter und vielen anderen Boomern. Boomer-Denke, die mich natürlich auch geprägt hat. Boomer, die sich heute beschweren, dass Gen Z heute keine 12h mehr arbeiten will. Ihre Lebenszeit nicht für unbekannte CEOs und Manager verkauft.

Letzens führte ich eine Unterhaltung mit einem Banker über genau das: Sein Leben so zu gestalten, wie es einem entspricht. Dass die Einteilung von Arbeitszeit und Freizeit eine Erfindung des Kapitalismus ist, eine Folge der Industrialisierung und oft bewirkt, dass der Mensch größtenteils an sich selbst vorbei lebt. Dieser Gedanke stammt übrigens von Joseph Beuys und wurde sicherlich nicht von mir das erste Mal gedacht. Besagter Gesprächspartner lachte daraufhin nur und meinte: Ja sooo, dann müsste ich wohl ein radfahrender Tischtennis-Profi sein, der sich durch Restaurants durchtestet hahahahha.

Ich fands traurig. Seinen tristen Bankersjob gewinnt er nämlich nicht viel ab, lebt nur für die paar Stunden Freizeit und findet Hemdentragen kacke. Aber die Konditionen seien gut. Das heißt, er trägt sein verhasstes Hemdchen jeden Tag zu guten Konditionen und reißt es sich nach 10 Stunden Maskierung für ein paar Abendstündchen vom Leib. Unglück zu guten Konditionen.

Mich befremdet das immer mehr, diese Sicht. Dabei geht es auch gar nicht um den Job per se. Denn es gibt Menschen, die gehen da wirklich drin auf. Genauso wie meine Schulfreundin, Steuerfachangestellte, die ihren Job leidenschaftlich liebt. Ohne Ironie.

Aber diesen Anspruch, dass es das Leben wert sei, sich selbst jeden Tag wohin zu schicken, womit man eigentlich nichts zu tun hat? Oder nur macht, weil man stolze 35 Tage im Jahr Urlaub hat von diesem Job?

Das beliebsteste Boomer-Argument ist dann oft: Ja, aber diese Jobs wie Müllabfuhr, Verkaufer, etc pp, die MÜSSEN ja auch gemacht werden! Den Luxus kann sich eine Gesellschaft eben nicht erlauben, dass sich jeder einen Job aussucht, der einen „Glücklich“ macht!

Und genau hier sehe ich schon die Basis des Übels: Wie abgehoben und arrogant ist es eigentlich, Verkäufer-Jobs, Müllabfuhr, Bestatter etc als weniger toll zu betrachten? Darin liegt ja schon so ein ekliges Statusdenken zugrunde, welches „solche“ Jobs abwertet. Und die Sache ist ja die: Wie viele Menschen sitzen in prestigeträchtigeren Jobs in ihren klimatisierten Powerstühlen vorm Laptop und sind eigentlich kreuzunglücklich und wären evtl. bei der Müllabfuhr viel besser aufgehoben, weil sie dann einen direkten Austausch hätten ohne viel Firlefanz und sich am Ende des Tages körperlich ausgelastet fühlen und nicht an Hans-Peter Rudolf aus der zweiten Chefetage denken, der einen heute im Meeting übersehen hat?

Wenn wir die Jobwahl zur Typfrage und nicht zur Prestigefrage machen würden, würden auch mehr Menschen in den passenderen Jobs sitzen.

Ich persönlich kann es mir nicht mehr vorstellen, nur für die wenigen Momente Freizeit oder für die paar Urlaube zu leben, die dann nur noch Flucht sind.

Ich glaube auch, dass vieles, was wir dann in unserer erkauften Freizeit so tun, nichts als Flucht ist vor unserem Leben.

Deutsche Ästhetik

Körperschmuck stört, praktische Kleidung plus pragmatischen Kurzhaarschnitt nicht. Bunte Nägel tragen nur Tussis und Lidl-Fleisch ist doch einwandfreie Qualität.

„Hast du heute noch was vor?“ wenn frau ein seidiges Kleid trägt.

Na, die hat bestimmt nix in der Birne, denn die trägt Make-up. Dieser schneidige Kurzschluss brillierte schon immer mit sauberster Oberflächlichkeit.

Graue Wollhosen im Winter, mit Fahrradhelm im Büro mehr geerntete Anerkennung, als mit sorgfältigen ausgewählten Röcken, die in leuchtenden Farben das eisengrau der Chefinnen-Hose Ute wegstrahlen.

Zu Weihnachten wird das 925er Sterling Silberschmuck-Set von 2000 ausgepackt. Ist ja anlässig genug, nä?

„Opferstolz“ nannte ein Journalist neulich die Berliner Mentalität, alles Schöne, Hochwertige zu verbrennen, zu verschandeln, zu zerstören.

Deutschland ist so wunderschön. Die Natur, manche Architektur, die Sprache. Doch ich komme mit dieser Nachkriegs-Nicht-Ästhetik der Deutschen nicht klar, der eigenen Ablehnung des Körpers, der eigenen Ignoranz, des puren Hasses gegenüber des Schmückens, Formens und Zuwendung des eigenen Seins.

Praktisch und günstig, Geiz ist Geil, manchmal kann ich es nicht mehr ertragen. Farb- und Einfallslosigkeit wird als Natürlichkeit gepriesen. Die Deutschen lehnen sich selbst so ab, dass sie immer wieder, wie zwanghaft, ihr Selbst, ihre Identität im Anderen suchen. Belehren und bestimmen, als Retter und Erklärer aufspielen und sich immer weiter verlieren. Anstatt zu sein, zu zelebrieren. Nach einer kleinen Deutschland-Auszeit plärren mich nach meiner Rückkehr wütende „Finger weg von Plastiktüten!“-Plakate an. Deutschland erhebt den Zeigefinger so hoch, bis er im eigenen Arsch landet. Immer und immer wieder. Das Land leidet eindeutig an SDE (Small Dick Energy) 😀 😀

Ich muss an meine Großtante denken, die, vor vielen Jahren in Deutschland wieder zu Besuch, an Deutschland nichts mehr weiter fand, als die sauberen Straßen.

Immerhin etwas.

Auslaufmodell

Er steht breitbeinig und aufgeregt wie ein junger Hund in dem Boot auf dem Fluss. Die Sonne brennt auf die Köpfe der übrigen Menschen nieder, die am Ufer rund um den Fluss entlangspazieren.

Er trägt eine Anzugshose aus billigem, dünnen Stoff. Nadelstreifen. Unten an den Knöcheln ist sie über das moderne Maß hinaus kurz. Auch oben herum, ist sie sehr sehr tief geschnitten. Das Hemd findet darin keinen Halt und quillt trotz Gürtel bei jeder Bewegung aus der Hose. Es wirkt, als würde er eine Kinderhose tragen, so kurz und knapp ist sie an allen Enden geschnitten.

Über dem weißen, teilweise heraushängendem Hemd trägt er ein Sakko. Freiwillig, trotz 33 Grad in der prallen Sonne.

Der kleine adrette Anzug ist für ihn eine Art Panzerung. Er gibt ihm Halt und Bedeutung. Glaubenssätze wie „Ich bin jemand in dieser WELT“ oder auch „Ich bin verdammt busy“ legt er sich mit an, wenn er sich morgens in den engen Anzug zwängt.

Er schwitzt furchtbar in seiner selbst gewählten Uniform unter der gleißenden Sonne, für die doch alle Wesen gleich sind. Das Boot schaukelt auf und ab und er hält das Paddel in den Händen. Er weiß nicht so recht, wie man es verwendet, er weiß aber ganz genau, was er in zahlreichen Filmen gesehen hat. Und diese Szenen möchte er nun nachspielen. Für Fotos. Fotos, die er später verwenden kann, um seinem gespielten Leben erneut ein imaginäres Kapitel hinzuzufügen.

Plötzlich verliert er das Gleichgewicht und plumpst mit seinem Anzugshosenboden auf den Grund des kleinen Boots. Jetzt liegt er da, wie ein kleiner Käfer in Nadelstreifen auf dem Rücken, zwei Arme und ein Paddel in die Höhe gestreckt und kommt nicht mehr auf die Beine. Der Anzug ist so eng und einschnürend, dass er sich nicht vom Fleck bewegen kann, eingeklemmt zwischen back- und steuerbord des Boots.

Führerlos geworden treibt das Boot nun, langsam und friedlich, einem der zahlreichen, dicht mit Wasserpflanzen und grünem Schlick durchwirktem kleinen und friedlicheren Ausläufer des Flusses entgegen.

Mother

Wir reden nicht über Gefühle. Außer über Schlechte. Und dann sollten diese am Besten nichts mit unserer Beziehung zu tun haben, sondern mit dem garstigen Nachbarn von oben.

So wuchs ich auf. Wenn ich mich als Kind gemault habe und weinte, dann war dies das höchste der zulassbaren Gefühle etc pp.

Meine Mutter kann das einfach nicht. Ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen war schlichtweg nie ein Thema. Nie. Und das ist doch so paradox, weil wir doch alle fühlen. Irgendwas.

Ich selbst musste es erst lernen, meine Gefühle zunächst wahrzunehmen und sie dann ernstzunehmen und sie schließlich auszudrücken. Doch wenn ich das bei ihr tue, dann ist das für sie „ein Mund verbieten“, wenn ich ihr beispielsweise sage, dass ich nicht möchte, dass sie so mit mir spricht, weil mich das verletzt.

Mir würde das nie in denn Sinn kommen, einfach eine Person (dann auch noch wissentlich) weiter zu verletzen mit meinem Verhalten. Ich muss es dabei, auch nicht komplett verstehen, um damit aufzuhören. Auch empfindet sich mich von oben herab, wenn ich ihr Dinge erkläre.

Fast fünf Jahre Therapie sind aber einfach mehr Therapie, als null Jahre Therapie. Und deswegen weiß ich auch um die Dynamik, dass vor allem sehr unsichere Menschen ein Problem mit selbstsicheren Menschen haben (können). Dass dies dann als Arroganz abgewertet werden kann. Genauso wie eher Menschen, die sehr wenig in Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen stehen, ein Problem damit haben (können), wenn man seine eigenen Grenzen formuliert. Das ist dann schnell einfach nur eine Unverschämtheit.

Manchmal sehe ich die Rolle nahezu umgekehrt: Meine Mutter ist das trotzige Kind, welches sich emotional nicht regulieren kann und ich bin die Erwachsene (Mutter), die tief durchatmet und sich die Trotzausbrüche anhört.

Am Ende ist meine Mutter immerhin dazu in der Lage, zu reflektieren, dass sie deshalb so reagiert, weil sie nichts anderes gewohnt ist, weil sie es selbst nicht anders kennt und sie es auch deshalb als überwältigend empfindet, wenn jemand so klar auftritt und sagt: Ich möchte das nicht.

Ohne, dass dies einen Beziehungsabbruch darstellen muss oder sie für sich selbst weiß, dass sie kein schlechter Mensch ist, wenn man ihr sagt, dass einen manche Dinge eben verletzen.

Ich fühle mich wirklich manchmal so, als müsse ich die Starke sein in dieser Beziehung. Und ja, das ist auch für mich in dem Zusammenhang nicht einfach, weil das Bild der weisen und starken Mutter, zu der man aufschauen kann und lernt, auch in mir verankert ist. Und welches in diesen Fällen leider nicht der Realität entspricht.

Ich liebe meine Mutter. Und sie ist mir wichtig. Und ich musste diejenige sein, die ihr das sagt, als Erste, sodass sie es mir auch sagen konnte. Und so das Eis gebrochen wurde. Ihre emotionale Versteinerung zumindest für diesen Moment aufweicht.

Meine Mutter ist eine blitzgescheite Frau, mit einem scharfen Verstand und einer großen Neugier und Offenheit. Dennoch. Es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass sie selbst im Jahr 2023 einer Therapie so ablehnend gegenüber steht. Sie hätte doch nichts zu verlieren. Sie könnte vielmehr immer weicher werden, sich selbst und ihre Gefühlswelt kennenlernen und verstehen.

„Durch die Welt irrlichtern“, hörte ich heute jemanden sagen. Und ich denke, so fühlt sich das dann an, wenn man so wenig über sich Bescheid weiß.

Ich würde es ihr so sehr wünschen und bin stolz auf sie, meinetwegen dann eben wie die Mutter, die ich nie hatte, als sie am Ende des Gesprächs meinte, dass sie einiges mitnimmt, über das sie nachdenken wolle.

Suchende

Bald haben wir es Juni und dann jährt sich der Tag meiner Trennung. Irgendwann im Juni habe ich herausgefunden, wie sehr mich Giovanni betrog. Und auch, wenn wir uns danach noch weiter gesehen haben, so war das doch mit Gift versetzt. Ich denke trotzdem die Tage an dieses Gefühl, mit jemandem aufzuwachen, jemandem Frühstück zu machen, gehalten zu werden. Und ich verstehe verstehe mich und alle anderen allzu gut, die diesem Gefühl der Geborgen- und Verbundenheit nachjagen und nachlechzen, die für eine vertraute innige Umarmung den Verstand ausschalten, den Gedankenfluss stoppen und sich den Bedürfnissen des Körpers einfach hingeben.

All die Menschen, die in unglücklichen Beziehungen verweilen, die Verletzungen und Betrug hinnehmen, wegdrücken, um am Ende des Tages nicht verlassen im Bett zu liegen.

Ich verstehe die Menschen, die sich vollballern mit Arbeit und Beschäftigung, mit irgendwelchen Menschen umgeben, damit sie ihre eigene Verlassenheit nicht fühlen müssen.

Wir-Gefühl, Gemeinschaft, das sind Worte, die letztens fielen und die mich anzogen aus Gründen.

Ich sehe Fotos des Teams an den Wänden, Hundenäpfe am Boden und höre eine Frage, wie alt der Donut in der Küche wohl sei.

Draußen springt der Hund fröhlich in der Sonne herum.

Das wird mein neuer Arbeitsplatz.

Ich denke an den Schriftsteller und hoffe, dass er meine Karte bekommen hat. Dass sie nicht abschreckend wirkt, da ich darin in zwei oder drei Sätzen meine …. Verbundenheit (?) zum Ausdruck bringen wollte und einfach nur, dass ich an ihn denke, weil er Geburtstag hat und ich hoffe, dass es ihm gut geht und dass er ja. Vielleicht mich nicht total vergessen hat. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein Wunsch von Herzen kommt und frei ist von Not und Notwendigkeit.

Das vorletzte Mal als wir uns sahen, kam mir mein Körper wie ein zerschundenes Stück Holz vor, dass schon lange Zeit auf dem Ozean trieb, sich herumtreiben ließ. Ich trug wie eine Art felliges, graues Fellkleid, dass mich zwar gut vor der Kälte geschützt hat, aber das gleichzeitig wie eine hässliche Barriere zwischen mir und allen Menschen wirkt. Und ich hab mich an ihn gelehnt, glücklich.

Ich frag mich wohl, ob ich ewig eine Suchende bleiben mag. Ich fühle mich so, seitdem ich mein Elternhaus verlassen habe. Und ich frage mich, wieso es trotzdem auch Menschen so geht, die all die Dinge schon haben, die ICH gerne hätte und nach denen ich suche.

Ich denke auch an Gio, der beständig auf der Suche ist nach anderen Frauen und der doch jede Beziehung mit weiteren Frauen wiederum zerstört. Ich frage mich, wieso so ein Mensch nicht aufhört? Ich habe herausgefunden, dass er dieses Modell „Italien – Ausland“ wie zu einer Art Geschäftsmodell ausgebaut hat, seitdem wir uns getrennt haben. Er tritt systematisch mit Frauen aus dem Ausland über Instagram oder Dating-Apps in Kontakt, lädt diese dann nach Italien zu sich ein, oder lässt sich von ihnen einladen und reist dann in die jeweiligen Städte ins Ausland zu ihnen. Durch die großen Distanzen ermöglicht ihm das, viele „Freundinnen“ zu haben in ganzer Welt und sie erfahren nur schwerlich voneinander.

Ich war schockiert, als ich davon erfuhr. Um ehrlich zu sein bin ich das immer noch. Und mir fällt es auch schwer, die guten und schönen Zeiten, die ich mit ihm erlebt habe, die sich wirklich gut anfühlten, zusammen zu bringen, mit dem was er getan hat bzw jetzt im großem Stil betreibt. 1998 hätte man wohl zu so jemandem Heiratsschwindler gesagt, wobei es in seinem Fall nicht um Heirat, noch um Geld geht. Trotzallem wissen diese Frauen nicht voneinander und was er ihnen vorgaukelt, ist das Gefühl von Verbundenheit und Nähe aus der Ferne. Dabei sind sie einfach nur eine weitere Nummer, ein weiteres potenzielles Reiseziel in seinem Handy…

Es ist traurig, dass sich mancheiner eher rückwärts entwickelt, als weiter. Auf der anderen Seite verstehe ich auch, wie schwierig es ist, nicht zu einem abgestumpften Fliegensack zu werden oder aber mit aller Gewalt eine rosarote Brille auf der Nase zu tragen, die man partout nicht abnehmen will, weil sie vielleicht das Einzige ist, das einem noch bleibt.

Ich höre mir die Tage ein Radiointerview von Claudia Obert an. Einer Frau, die oftmals unterschätzt wird, die sich aber ihr ganzes Leben lang, gegen das klassische Modell der stillen und bescheidenen Frau im Hintergrund gewehrt hat und die leibt und lebt, wie ein „echter Kerl“. Damit meine ich, dass sie sich nimmt und zeigt, wie sie ist. Dass sie genießt und sich eben voll dem Hedonismus hingibt. Sie ist keine von den Frauen, die sich nicht traut, sich öffentlich auf einer Yacht zu räkeln, weil die Bikinifigur vielleicht nicht mehr ganz die Alte ist. Sie hat ein stabiles Selbstwertgefühl, sodass sie sich nicht eingeschüchtert fühlt, wenn sie von jüngeren, schöneren Frauen umgeben wird. Sie schätzt Ästhetik und umgibt sich mit ihr, anstatt geifernd über andere Frauen zu lästern.

Eine Lebefrau. Die dennoch schon oftmals schwer enttäuscht wurde und die sich, so scheint es, nun voll und ganz dem Gefühl im Hier und Jetzt verschrieben hat, und seit dem Tod ihrer geliebten Eltern, den Glauben an echte Verbindung verloren zu haben scheint. „Alles in Leben ist ein Tauschgeschäft“, sagt sie, als der Radiomoderator sie zu loben müssen glaubt, als sie davon erzählt, dass sie einer Freundin die Reise bezahlt, weil sie Bock hat nach Dubai zu fliegen. „Alleine zu genießen, macht weniger Spaß“.

Man merkt, wie der Moderator sichtlich angefasst ist, von so wenig Romantik. Claudia Obert bedient den Pathos des Konstrukts Liebe und Beziehungen nicht.

Ich verstehe den Moderator. Denn wir alle wünschen uns ja diese Liebe und ungetrübte Verbundenheit. Und wenn wir sie nicht haben, so wollen wir doch zumindest hoffen dürfen. Ich verstehe aber auch Claudia Oberts Nüchternheit, nachdem man viele Enttäuschungen erlebt hat im Leben und sie jetzt eben auf ihre Art, das Beste daraus macht.

Ich glaube tatsächlich, dass man die Augen schon sehr zukneifen muss, um eine schöne Beziehung zu führen. Trotzdem sträubt sich (noch) etwas gegen den Obert’schen Lifestyle.

Wie seht ihr das?

Schmerz

Ich sitze in einem Restaurant ohne Leute. Ich sitze da, weil ich weiß, dass sie dort wunderbare, saftig-knusprige Pizza Margaritha machen und es dort Wein gibt, der auch wirklich nach den angepriesenen Pfirsich-Aprikosen Noten schmeckt, ohne eine liebliche Plörre zu sein.

Ich konzentriere mich auf das Geschmackserlebnis, während neben mir eine Bekannte sitzt, lustlos in ihrer Pasta herumstochert und mir das Ohr abkaut, weil sie während des gesamten Essens über ihren Ex-Mann lästert und über irgendwelche Typen.

Mich juckts nicht, denn ich genieße das Essen. Man könnte sagen, deshalb bin ich hier. Als ich etwas über Kunst sage, und das Kunst eine der wenigen Dinge ist, wenn ich sie mache oder wenn ich mich in sie vertiefe, so etwas wie ein Flow entsteht und die Zeit rasend schnell vorbei geht, einfach aus dem Grund, weil ich im Hier und Jetzt bin und weder an Gestern noch an Morgen denke, fragt sie: Aber ist das nicht schlimm, wenn dann deine Lebenszeit so schnell weg ist?

Ich frage mich, wie unfassbar dämlich ein Mensch sein kann und mein schnippisches Ich hätte gerne geantwortet: Stimmt, du hast Recht, wir sollten lieber mehr von den Dingen tun, bei denen wir uns prächtig langweilen, ständig auf die Uhr schielen und wir wortwörtlich die Zeit totschlagen müssen.

Ihre wässrigen Augen schauen mich suchend an. Die Pupillen wandern dabei im Millisekundentakt hin und her. Als sucht sie einen Anhaltspunkt in mir. Und ich denke, darin liegt auch diese beschränkte Antwort zugrunde: Einfach was sagen, um etwas gesagt zu haben.

Die schnippische Antwort verkneife ich mir und esse ruhig weiter. In letzter Zeit war ich sehr streng. Und ich denke, das war auch wichtig. Eine Abgrenzung entstehen zu lassen, um mich selbst besser konturieren zu können.

Eine alte Schulfreundin gratuliert mir zum Geburtstag und als ich sie daraufhin frage, wie es ihr geht, antwortet sie: „Ich bin jetzt übrigens nicht mehr Single ;)“

Und auch das finde ich so unfassbar dämlich-doof-kleingeistig. Lebensziel kein Single mehr sein. Und das ist dann das Life Update, das man verkündet, als ob man damit einen Preis gewonnen hätte, den Preis des Lebens. Ich war auch hier kurz davor eine passiv-aggressive Antwort zu verfassen, aber ich lass es. Weil ich mich daran erinnere, dass diese Schulfreundin einfach a) nicht die hellste Kerze auf der Torte des Lebens ist und b) sie trotzdem ein netter Mensch ist und c) ich vor noch nicht allzu langer Zeit mein Seelenheil auch in einem Mann gesucht habe und d) es seinen Grund hat, dass diese alte Schulfreundin eine alte Schulfreundin ist und keine aktuelle. Und wir uns alle meist auf verschiedenen Entwicklungsebenen befinden. Befinden wollen. Diese alte Schulfreundin kann nicht alleine sein und nimmt mit, was kommt.

Nimmt mit, was kommt.

Ich war doch auch lange nicht anders. Und hab mir dabei oft ziemlich weh getan. Und zwar so sehr, dass ich momentan alles, was sich mir in den Weg stellen mag, mit kaltem Hass und Missachtung übergieße.

Und das ist manchmal too much.

Ich bin gerade dabei, die Balance zu suchen. Mittlerweile habe ich so viel Selbstbewusstsein, dass ich nicht mehr sehenden Auges in Situationen oder Beziehungen bleibe, die mir nicht entsprechen. Bloß lasse ich dabei manchmal auch außer Acht, dass die meisten mir nicht aktiv etwas Böses wollen, sondern einfach nur selbst so gut machen wie sie eben können.

„Das Schicksal entscheidet, wer uns im Leben begegnet, wir selbst entscheiden, wer darin bleibt“

So ist es mit Menschen, mit Situationen. Und das gibt mir Kontrolle zurück. Bloß fühle ich mich gerade hypersensibilisiert. Damit möchte ich die unpassenden Situationen oder übergriffigen Menschen nicht herunterspielen. Ich glaube aber, dass die Wut darüber von mir in letzter Zeit nicht gut ist auf Dauer. Einfach zu gehen, statt unmögliches ändern zu wollen, spart Energie und Zeit. Und eröffnet Raum für Neues und Anderes.

Die alte Schulfreundin wird weiterhin eine alte Schulfreundin bleiben und wir gratulieren uns einmal im Jahr gegenseitig. Mehr nicht. Ich werde auf ihr „Wir müssen uns uuuunbedingt mal wieder treffen und quatschen“ nicht eingehen. Die Bekannte aus dem Restaurant, die das gaaaanz bald wiederholen will, wird auf meinen Vorschlag zur nächsten Ohr-Abkau-Session lange warten können. Aber ich lass das alles in Frieden sein. Sein und Gehen. Für die Momente war es gut. Für die Pizza und den Wein oder auch den kurzen nostalgischen Moment. Und dann lass ich es gehen.

Mein Körper zeigt mir momentan sehr klar und deutlich, wenn ich mich mit jemandem oder einer Situation nicht wohl fühle. Wie als ob mein jahrelanges Unterdrücken meiner Gefühle jetzt schlichtweg nicht mehr drin ist. Mein Körper und Ich werden wieder zu einer Einheit. Er lässt sich nicht mehr austricksen von meinem Verstand, der mir einreden will, dass doch alles nicht so schlimm sei oder dass ich mich mal nicht so anstellen soll.

Das ist irgendwie beängstigend, auf der anderen Seite wohl nötig, da ich einen Hang zum Aushalten habe.

Ich denke gerade an meine Eltern, die ich letztens traf und auch da, lässt meine Strenge und Abgrenzung der letzten Jahre nach. Aber auch das seltsame auf ein Podest stellen. Ich empfinde eine ruhige Liebe zu ihnen.

Letztens lernte ich eine Frau kennen, 70 Jahre alt, die eine Rose vor einem Haus niederlegte, als Zeichen der Erinnerung, des Respekts. Eine Frau wollte ihr dabei helfen, doch sie antwortete: „Das soll mir nicht zu schwer sein“ und sie küsste die Rose und legte sie auf die Schwelle des Hauses. So viel Schmerz und so viel Stärke, die diese alte Dame ausstrahlte. Später versammelten wir uns in einem Raum und sie hielt einen kleinen Vortrag. Mehrere Personen fingen an zu weinen und auch ich war den Tränen nahe. Denn auch meine Familie ist teilweise von diesem Schmerz betroffen, von altem Unrecht und Unterdrückung. Und dieser Schmerz, der ist immer noch präsent. Und selbst wenn dieses Unrecht zumindest nicht mehr akut präsent sein mag, so ist der Schmerz immer noch da, durch seine Unterdrückung, durch zu wenig vergossene Tränen. Und irgendwann wandelt sich der unterdrückte Schmerz in ein Zuviel an Abgrenzung, an ein Zuviel an Bitterlichkeit. Ich sehe das in meiner Familie. Teilweise.

„We should be saved in an ocean of tears“ ist auch ein Satz, der mich in letzter Zeit begleitet.

Schmerz zuzulassen und ihm Raum zu geben, damit er einen nicht auffrisst. Ihn anzuerkennen und Aufmerksamkeit zu schenken, anstatt ihn zu übergehen und wegzudrücken.

Ruhe und Sinn zu finden, anstatt Beschäftigung und Ablenkung.

Ich bin so ernst in letzter Zeit. „Kein Wunder“, sagt mein Bekannte, „du bist ja auch gerade in einer Extremsituation in deinem Leben!“.

Ja, denke ich mir, da hat sie nun wirklich Recht. Und das tut gut zu hören. Es ist gerade einfach eine besondere und wichtige Zeit. Die nicht gerade einfach ist. Und es genügt mir nicht mehr, mich abzulenken, mit netten SchiSchi.

Ich will das Eigentliche. Ich will die Pfirsich-Aprikosen-Noten auch in meinem Leben endlich schmecken und nicht nur trinken, um des Trinkens willen 🙂