Auslaufmodell

Er steht breitbeinig und aufgeregt wie ein junger Hund in dem Boot auf dem Fluss. Die Sonne brennt auf die Köpfe der übrigen Menschen nieder, die am Ufer rund um den Fluss entlangspazieren.

Er trägt eine Anzugshose aus billigem, dünnen Stoff. Nadelstreifen. Unten an den Knöcheln ist sie über das moderne Maß hinaus kurz. Auch oben herum, ist sie sehr sehr tief geschnitten. Das Hemd findet darin keinen Halt und quillt trotz Gürtel bei jeder Bewegung aus der Hose. Es wirkt, als würde er eine Kinderhose tragen, so kurz und knapp ist sie an allen Enden geschnitten.

Über dem weißen, teilweise heraushängendem Hemd trägt er ein Sakko. Freiwillig, trotz 33 Grad in der prallen Sonne.

Der kleine adrette Anzug ist für ihn eine Art Panzerung. Er gibt ihm Halt und Bedeutung. Glaubenssätze wie „Ich bin jemand in dieser WELT“ oder auch „Ich bin verdammt busy“ legt er sich mit an, wenn er sich morgens in den engen Anzug zwängt.

Er schwitzt furchtbar in seiner selbst gewählten Uniform unter der gleißenden Sonne, für die doch alle Wesen gleich sind. Das Boot schaukelt auf und ab und er hält das Paddel in den Händen. Er weiß nicht so recht, wie man es verwendet, er weiß aber ganz genau, was er in zahlreichen Filmen gesehen hat. Und diese Szenen möchte er nun nachspielen. Für Fotos. Fotos, die er später verwenden kann, um seinem gespielten Leben erneut ein imaginäres Kapitel hinzuzufügen.

Plötzlich verliert er das Gleichgewicht und plumpst mit seinem Anzugshosenboden auf den Grund des kleinen Boots. Jetzt liegt er da, wie ein kleiner Käfer in Nadelstreifen auf dem Rücken, zwei Arme und ein Paddel in die Höhe gestreckt und kommt nicht mehr auf die Beine. Der Anzug ist so eng und einschnürend, dass er sich nicht vom Fleck bewegen kann, eingeklemmt zwischen back- und steuerbord des Boots.

Führerlos geworden treibt das Boot nun, langsam und friedlich, einem der zahlreichen, dicht mit Wasserpflanzen und grünem Schlick durchwirktem kleinen und friedlicheren Ausläufer des Flusses entgegen.

Mother

Wir reden nicht über Gefühle. Außer über Schlechte. Und dann sollten diese am Besten nichts mit unserer Beziehung zu tun haben, sondern mit dem garstigen Nachbarn von oben.

So wuchs ich auf. Wenn ich mich als Kind gemault habe und weinte, dann war dies das höchste der zulassbaren Gefühle etc pp.

Meine Mutter kann das einfach nicht. Ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen war schlichtweg nie ein Thema. Nie. Und das ist doch so paradox, weil wir doch alle fühlen. Irgendwas.

Ich selbst musste es erst lernen, meine Gefühle zunächst wahrzunehmen und sie dann ernstzunehmen und sie schließlich auszudrücken. Doch wenn ich das bei ihr tue, dann ist das für sie „ein Mund verbieten“, wenn ich ihr beispielsweise sage, dass ich nicht möchte, dass sie so mit mir spricht, weil mich das verletzt.

Mir würde das nie in denn Sinn kommen, einfach eine Person (dann auch noch wissentlich) weiter zu verletzen mit meinem Verhalten. Ich muss es dabei, auch nicht komplett verstehen, um damit aufzuhören. Auch empfindet sich mich von oben herab, wenn ich ihr Dinge erkläre.

Fast fünf Jahre Therapie sind aber einfach mehr Therapie, als null Jahre Therapie. Und deswegen weiß ich auch um die Dynamik, dass vor allem sehr unsichere Menschen ein Problem mit selbstsicheren Menschen haben (können). Dass dies dann als Arroganz abgewertet werden kann. Genauso wie eher Menschen, die sehr wenig in Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen stehen, ein Problem damit haben (können), wenn man seine eigenen Grenzen formuliert. Das ist dann schnell einfach nur eine Unverschämtheit.

Manchmal sehe ich die Rolle nahezu umgekehrt: Meine Mutter ist das trotzige Kind, welches sich emotional nicht regulieren kann und ich bin die Erwachsene (Mutter), die tief durchatmet und sich die Trotzausbrüche anhört.

Am Ende ist meine Mutter immerhin dazu in der Lage, zu reflektieren, dass sie deshalb so reagiert, weil sie nichts anderes gewohnt ist, weil sie es selbst nicht anders kennt und sie es auch deshalb als überwältigend empfindet, wenn jemand so klar auftritt und sagt: Ich möchte das nicht.

Ohne, dass dies einen Beziehungsabbruch darstellen muss oder sie für sich selbst weiß, dass sie kein schlechter Mensch ist, wenn man ihr sagt, dass einen manche Dinge eben verletzen.

Ich fühle mich wirklich manchmal so, als müsse ich die Starke sein in dieser Beziehung. Und ja, das ist auch für mich in dem Zusammenhang nicht einfach, weil das Bild der weisen und starken Mutter, zu der man aufschauen kann und lernt, auch in mir verankert ist. Und welches in diesen Fällen leider nicht der Realität entspricht.

Ich liebe meine Mutter. Und sie ist mir wichtig. Und ich musste diejenige sein, die ihr das sagt, als Erste, sodass sie es mir auch sagen konnte. Und so das Eis gebrochen wurde. Ihre emotionale Versteinerung zumindest für diesen Moment aufweicht.

Meine Mutter ist eine blitzgescheite Frau, mit einem scharfen Verstand und einer großen Neugier und Offenheit. Dennoch. Es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass sie selbst im Jahr 2023 einer Therapie so ablehnend gegenüber steht. Sie hätte doch nichts zu verlieren. Sie könnte vielmehr immer weicher werden, sich selbst und ihre Gefühlswelt kennenlernen und verstehen.

„Durch die Welt irrlichtern“, hörte ich heute jemanden sagen. Und ich denke, so fühlt sich das dann an, wenn man so wenig über sich Bescheid weiß.

Ich würde es ihr so sehr wünschen und bin stolz auf sie, meinetwegen dann eben wie die Mutter, die ich nie hatte, als sie am Ende des Gesprächs meinte, dass sie einiges mitnimmt, über das sie nachdenken wolle.