Schmerz

Ich sitze in einem Restaurant ohne Leute. Ich sitze da, weil ich weiß, dass sie dort wunderbare, saftig-knusprige Pizza Margaritha machen und es dort Wein gibt, der auch wirklich nach den angepriesenen Pfirsich-Aprikosen Noten schmeckt, ohne eine liebliche Plörre zu sein.

Ich konzentriere mich auf das Geschmackserlebnis, während neben mir eine Bekannte sitzt, lustlos in ihrer Pasta herumstochert und mir das Ohr abkaut, weil sie während des gesamten Essens über ihren Ex-Mann lästert und über irgendwelche Typen.

Mich juckts nicht, denn ich genieße das Essen. Man könnte sagen, deshalb bin ich hier. Als ich etwas über Kunst sage, und das Kunst eine der wenigen Dinge ist, wenn ich sie mache oder wenn ich mich in sie vertiefe, so etwas wie ein Flow entsteht und die Zeit rasend schnell vorbei geht, einfach aus dem Grund, weil ich im Hier und Jetzt bin und weder an Gestern noch an Morgen denke, fragt sie: Aber ist das nicht schlimm, wenn dann deine Lebenszeit so schnell weg ist?

Ich frage mich, wie unfassbar dämlich ein Mensch sein kann und mein schnippisches Ich hätte gerne geantwortet: Stimmt, du hast Recht, wir sollten lieber mehr von den Dingen tun, bei denen wir uns prächtig langweilen, ständig auf die Uhr schielen und wir wortwörtlich die Zeit totschlagen müssen.

Ihre wässrigen Augen schauen mich suchend an. Die Pupillen wandern dabei im Millisekundentakt hin und her. Als sucht sie einen Anhaltspunkt in mir. Und ich denke, darin liegt auch diese beschränkte Antwort zugrunde: Einfach was sagen, um etwas gesagt zu haben.

Die schnippische Antwort verkneife ich mir und esse ruhig weiter. In letzter Zeit war ich sehr streng. Und ich denke, das war auch wichtig. Eine Abgrenzung entstehen zu lassen, um mich selbst besser konturieren zu können.

Eine alte Schulfreundin gratuliert mir zum Geburtstag und als ich sie daraufhin frage, wie es ihr geht, antwortet sie: „Ich bin jetzt übrigens nicht mehr Single ;)“

Und auch das finde ich so unfassbar dämlich-doof-kleingeistig. Lebensziel kein Single mehr sein. Und das ist dann das Life Update, das man verkündet, als ob man damit einen Preis gewonnen hätte, den Preis des Lebens. Ich war auch hier kurz davor eine passiv-aggressive Antwort zu verfassen, aber ich lass es. Weil ich mich daran erinnere, dass diese Schulfreundin einfach a) nicht die hellste Kerze auf der Torte des Lebens ist und b) sie trotzdem ein netter Mensch ist und c) ich vor noch nicht allzu langer Zeit mein Seelenheil auch in einem Mann gesucht habe und d) es seinen Grund hat, dass diese alte Schulfreundin eine alte Schulfreundin ist und keine aktuelle. Und wir uns alle meist auf verschiedenen Entwicklungsebenen befinden. Befinden wollen. Diese alte Schulfreundin kann nicht alleine sein und nimmt mit, was kommt.

Nimmt mit, was kommt.

Ich war doch auch lange nicht anders. Und hab mir dabei oft ziemlich weh getan. Und zwar so sehr, dass ich momentan alles, was sich mir in den Weg stellen mag, mit kaltem Hass und Missachtung übergieße.

Und das ist manchmal too much.

Ich bin gerade dabei, die Balance zu suchen. Mittlerweile habe ich so viel Selbstbewusstsein, dass ich nicht mehr sehenden Auges in Situationen oder Beziehungen bleibe, die mir nicht entsprechen. Bloß lasse ich dabei manchmal auch außer Acht, dass die meisten mir nicht aktiv etwas Böses wollen, sondern einfach nur selbst so gut machen wie sie eben können.

„Das Schicksal entscheidet, wer uns im Leben begegnet, wir selbst entscheiden, wer darin bleibt“

So ist es mit Menschen, mit Situationen. Und das gibt mir Kontrolle zurück. Bloß fühle ich mich gerade hypersensibilisiert. Damit möchte ich die unpassenden Situationen oder übergriffigen Menschen nicht herunterspielen. Ich glaube aber, dass die Wut darüber von mir in letzter Zeit nicht gut ist auf Dauer. Einfach zu gehen, statt unmögliches ändern zu wollen, spart Energie und Zeit. Und eröffnet Raum für Neues und Anderes.

Die alte Schulfreundin wird weiterhin eine alte Schulfreundin bleiben und wir gratulieren uns einmal im Jahr gegenseitig. Mehr nicht. Ich werde auf ihr „Wir müssen uns uuuunbedingt mal wieder treffen und quatschen“ nicht eingehen. Die Bekannte aus dem Restaurant, die das gaaaanz bald wiederholen will, wird auf meinen Vorschlag zur nächsten Ohr-Abkau-Session lange warten können. Aber ich lass das alles in Frieden sein. Sein und Gehen. Für die Momente war es gut. Für die Pizza und den Wein oder auch den kurzen nostalgischen Moment. Und dann lass ich es gehen.

Mein Körper zeigt mir momentan sehr klar und deutlich, wenn ich mich mit jemandem oder einer Situation nicht wohl fühle. Wie als ob mein jahrelanges Unterdrücken meiner Gefühle jetzt schlichtweg nicht mehr drin ist. Mein Körper und Ich werden wieder zu einer Einheit. Er lässt sich nicht mehr austricksen von meinem Verstand, der mir einreden will, dass doch alles nicht so schlimm sei oder dass ich mich mal nicht so anstellen soll.

Das ist irgendwie beängstigend, auf der anderen Seite wohl nötig, da ich einen Hang zum Aushalten habe.

Ich denke gerade an meine Eltern, die ich letztens traf und auch da, lässt meine Strenge und Abgrenzung der letzten Jahre nach. Aber auch das seltsame auf ein Podest stellen. Ich empfinde eine ruhige Liebe zu ihnen.

Letztens lernte ich eine Frau kennen, 70 Jahre alt, die eine Rose vor einem Haus niederlegte, als Zeichen der Erinnerung, des Respekts. Eine Frau wollte ihr dabei helfen, doch sie antwortete: „Das soll mir nicht zu schwer sein“ und sie küsste die Rose und legte sie auf die Schwelle des Hauses. So viel Schmerz und so viel Stärke, die diese alte Dame ausstrahlte. Später versammelten wir uns in einem Raum und sie hielt einen kleinen Vortrag. Mehrere Personen fingen an zu weinen und auch ich war den Tränen nahe. Denn auch meine Familie ist teilweise von diesem Schmerz betroffen, von altem Unrecht und Unterdrückung. Und dieser Schmerz, der ist immer noch präsent. Und selbst wenn dieses Unrecht zumindest nicht mehr akut präsent sein mag, so ist der Schmerz immer noch da, durch seine Unterdrückung, durch zu wenig vergossene Tränen. Und irgendwann wandelt sich der unterdrückte Schmerz in ein Zuviel an Abgrenzung, an ein Zuviel an Bitterlichkeit. Ich sehe das in meiner Familie. Teilweise.

„We should be saved in an ocean of tears“ ist auch ein Satz, der mich in letzter Zeit begleitet.

Schmerz zuzulassen und ihm Raum zu geben, damit er einen nicht auffrisst. Ihn anzuerkennen und Aufmerksamkeit zu schenken, anstatt ihn zu übergehen und wegzudrücken.

Ruhe und Sinn zu finden, anstatt Beschäftigung und Ablenkung.

Ich bin so ernst in letzter Zeit. „Kein Wunder“, sagt mein Bekannte, „du bist ja auch gerade in einer Extremsituation in deinem Leben!“.

Ja, denke ich mir, da hat sie nun wirklich Recht. Und das tut gut zu hören. Es ist gerade einfach eine besondere und wichtige Zeit. Die nicht gerade einfach ist. Und es genügt mir nicht mehr, mich abzulenken, mit netten SchiSchi.

Ich will das Eigentliche. Ich will die Pfirsich-Aprikosen-Noten auch in meinem Leben endlich schmecken und nicht nur trinken, um des Trinkens willen 🙂

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