Ist das ein Skandal?

In diesem Jahr konnte ich ein (vielleicht) persönliches Phänomen beobachten, bei dem ich mich von vielen Menschen oder belastenden Situationen distanzierte, die nicht mehr zu mir passten oder mir Schmerz zufügten. Ich vergleiche diesen Prozess gerne mit dem langsamen Abziehen eines Pflasters. Zwar mag der Anfang schmerzhaft sein, doch am Ende trägt es zur Heilung bei. Es fasziniert mich, wie Menschen sich oft an schmerzhafte Umstände oder Situationen gewöhnen und sie als ihre neue Normalität akzeptieren. Das Verbünden und Verbrüdern mit Menschen, die ähnliches Leid erleben, anstatt dem Hinwenden zu Personen, die vielleicht schon einen Schritt weiter sind. Trotz Schmerz, wird ein gewisses „Stehenbleiben“. in Kauf genommen. Ein gemeinsames Wälzen im Leid. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen „Trauma-Bonding“.

Ein weiteres Konzept, über das ich nachgedacht habe, ist die Idee der „doppelten Ablehnung“. Dieses Konzept begegnete mir durch eine Passage aus einem Roman von Édouard Louis: Es bezieht sich auf Personen, die aufgrund von Umständen – etwa mangelnder Bildung oder begrenzter Möglichkeiten – bestimmte Optionen in ihrem Leben ablehnen (Ablehnung 1). Später, wenn sich diese Optionen erneut in ihrem Leben zeigen, lehnen sie sie erneut ab (Ablehnung 2), und dadurch werden diese Optionen endgültig versperrt. Der Käfig, der aufgrund äußerer Umstände da war, wird nun eigenhändig zementiert. Für immer.

Während ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich mich an eine Gesellschaft gewöhnt habe, die mich nicht richtig repräsentiert oder inspiriert. Diese Gewohnheit, so glaube ich, führt dazu, dass Menschen in einem Kreislauf von Negativität und Leid gefangen sind und dabei potenzielle Unterstützungen und Chancen ausschließen. Wieviele von diesen blind spots gibt es wohl in jedem von uns?

Seine Wunden zeigt man leichter Personen, die auch verletzt sind. Und irgendwie ist das auch logisch. Aber wenn die Person im gleichen Stadium der Verletzung ist, kann daraus oft nichts langfristig Gutes entstehen. Oft wühlt man dann mit vereinten Kräften weiter in den Untergrund und wettert grimmig gegen „die da oben“.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die so sehr im gleichen Sumpf stehen, gar keinen Raum und Kapazität haben für mich oder andere. Wie denn auch? Jeder braucht doch gerade alle Kraft für sich, um nicht vollends unterzugehen. Sich gegenseitig leidige Nachrichten zukommen zu lassen, wie schlimm, wie scheisse, wie gemein doch alles ist…mir bringt das nichts. Mehr. Und ich meine sicher nicht „mal“, sondern wenn das die Grundmood ist. Das merkt man immer daran, wenn zum Beispiel auch gar keine Kapazität da ist, sich auf irgendwen anderes einzulassen, der halt gerade einfach zufrieden ist.

Ich bin jetzt, gegen Ende dieses Jahres so sehr mit Feinfühligkeit, Raum für mich und Wohlwollen, geerdeten Personen umgeben, beruflich wie privat, dass ich manchmal heulen könnte. Und ich merke, wie UNGEWOHNT es für mich ist, unter ihnen zu sein. Wie ich Tatsache Probleme habe, mich zu zeigen, in all meiner Unzulänglichkeit.

Und das, das war schon immer mein Problem. Scham für xy und deshalb mied ich oben beschriebenes oder beschriebene wie die Pest, die doch eigentlich nötig wären, um mich zu heilen und da raus zu führen aus dem Sumpf.

Ich weiß, dass das mit meinem Selbstwert zu tun hat. Ich weiß aber auch, dass es NICHT die Lösung ist, sich immer mit ähnlich verletzten und versehrten Menschen zusammenzutun. Genauso wie es keine Lösung ist, Schönes zu verschandeln, weil ich es nicht haben kann.

Ich bin immer aufgeweichter in meinem Widerstand – aber ich weiß noch nicht recht, wie ich das vollständig überwinden kann.

Dieses Jahr endet so leise und doch so schön und viele wissen gar nicht, was sie mir bedeuten. In all dieser einfachen Freundlichkeit. Ohne Drama, schimpfen, zetern und zurecht biegen von Dingen, die nicht passen, nie passen werden.

Ich habe dieses Jahr so viel los gelassen und ich vermisse nichts und niemanden. Die Wut ist verraucht, nein halt, vielleicht ist Rauch das einzige, was noch da ist, aber keine Glut. Es ist ruhig nach all den Jahren voller Drama und deshalb stört mich der Winter gerade gar nicht. Denn genau das ist meine Mood: Still und ruhig und gelassen.